Rede von Anne Sophie Spieler aus Waghäusel – 2. Platz im Kreativwettbewerb des Marie-Juchacz-Preises

Am 19. Februar 1919 sprach die Sozialdemokratin Marie Juchacz als erste weibliche Abgeordnete in einem deutschen Parlament. Aus diesem Anlass hat die SPD-Bundestagsfraktion in Berlin erst- und einmalig den „Marie Juchacz-Preis“ zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht. Neue Zeiten. Neue Ideen. Wir machen mobil“ verliehen. In dem Kreativwettbewerb für 16- bis 27-Jährige wurden zukunftsweisende, frauenpolitische Reden, ausgehend von der Frage, was Marie Juchacz heute sagen würde, ausgezeichnet.

Besonders groß ist die Freude bei uns in Baden. Denn der zweite Platz ging in die Region an die 19-jährige Anne Sophie Spieler aus Waghäusel.

Ich gratuliere Anne Sophie zu dieser tollen Auszeichnung. Sie hat eine beeindruckende Rede im Sinne von Marie Juchacz geschrieben, die unten im Wortlaut abgedruckt ist.

Über so viel politisches Engagement freue ich mich sehr. In dieser Rede wird der wunde Punkt direkt angesprochen. In Sachen Gleichberechtigung ist in der Tat noch viel zu tun. Es ist daher wichtig, dass die heutige Frauen-Generation diese eigentliche Selbstverständlichkeit, die Anne Sophie in ihrer Rede anspricht, einfordert.

(Foto: Andreas Amann)

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Meine Herren, meine Damen,

876 000 Stunden, 36 500 Tage, 5214 Wochen – 100 Jahre, all diese Zahlenwerte beschreiben etwas gleiches, drücken dasselbe anders aus, es ist ganz gleich, macht keinen Unterschied, welchen Ausdruck wir verwenden.

Gleichheit das ist das Stichwort, das zentrale Thema, das vor 100 Jahren endlich rechtskräftig niedergeschrieben wurde, die Gleichheit zwischen Mann und Frau, Frau und Mann. Eine Gleichheit die längst nicht die oben beschriebene Perfektion erreicht hat, Gleichheit die einen Prozess durchläuft, der eine weit ältere Geschichte inne hat, als 100 Jahre und ein Prozess der andauert, von dem wir, alle von uns Teil sind, mit all seinen Fehlern und Erfolgen. So ist es mir eine außerordentliche Freude heute, hier nach 100 Jahren, diesen Prozess mit Ihnen zu beleuchten, ihn zu würdigen, ihn zu kritisieren, ihn voranzutreiben.

Unser Weg war lang, er war steinig und ganz bestimmt sind wir ihn noch nicht bis zum Ende gegangen. Letztlich wurde Unrecht zu Recht, nachdem bedeutende weibliche Persönlichkeiten mit Herzblut, ja mit der reinen Freude und Liebe zur Gerechtigkeit, immer wieder für sich und damit für uns einstanden. Auf diesem Weg zahlten sie nicht selten einen hohen Preis. Konnten und mussten die Frauen im ersten Weltkrieg ihre Männer ersetzen, sich beweisen, obwohl ein derartiger Beweis nie hätte notwendig sein dürfen, verließ sie der hart erkämpfte Fortschritt, wenn auch ein zögerlicher, mit den Anfängen des Nazi- Reiches. Das Verbot des internationalen Frauentages, die intensive Herabwürdigung des Objekts „Frau“ als eine Gebärmaschine, ohne jegliches Recht auf eine gleichwertige Bildung, ohne politisches Mitspracherecht und das vollkommene Absprechen der Kompetenzen in genau jenen Bereichen in den Gleichheit doch so unerlässlich ist. Diese Zeit, die zweifelsohne ein Rückschritt in jeglicher Hinsicht war, war doch vor allem auch ein Rückschlag für uns. Ein Phänomen was wir auch heute noch in den Rechts-radikalen Reihen erkennen können, und damit von mangelnden Fähigkeiten, Stupidität und moralischer Schwäche zeugt.

Was am 12. November 1918 beschlossen wurde klingt somit zwar zauberhaft, ist aber gewiss kein Zauberspruch. Lediglich der Grundstein wurde gesetzt, gesetzt für die erste reichsweite Wahl am 19. Januar 1919, an der erstmals Frauen wählten und gewählt wurden. 423 Abgeordnete davon 37 Frauen, 11%, so lautet die erste Quote und lässt viel Luft nach oben. Luft, die wir heute noch haben, von der wir glaubten und hofften sie würde sich nicht so lange halten. Im heutigen Bundestag beläuft sich das Verhältnis auf 31%, eine Verbesserung. Es ist besser, aber es ist nicht gut, gerade dann wenn wir von Gleichheit sprechen, von dem elementarem unserer Gesellschaft. Einige Parteien und an dieser Stelle ist Lob angebracht, sind definitiv Vorreiter unseres Zieles. So kommt die SPD auf 42% weibliche Vertreter, die Linke auf 54%, Die Grüne auf stolze 58% Frauenanteil der 19. Legislaturperiode. Problemkinder bleiben hingegen konservative Parteien, sowie radikal orientierte Gruppierungen.

Was veränderte sich jedoch, was dürfen wir heute feiern und endlich als „selbstverständlich“ betiteln? Stellen wir uns zunächst die überaus wichtige Frage, was unter dem Wort „selbstverständlich“ überhaupt zu verstehen ist? Ohne Frage, ohne eine Begründung nennen müssen, das nicht bedürfen einer Rechtfertigung. Ohne Zweifel etwas was wir uns schon lange im Sinne der Gleichberechtigung wünschen. Wir müssen uns nicht rechtfertigen, wir müssen keinen Grund nennen und unsere Rechte müssen ausser Frage stehen. Und ja einige unserer zentralen Forderungen fanden Gehör; gleiche Bildungsmöglichkeiten, Arbeitsschutzgesetze oder gar der legale Schwangerschaftsabbruch. Nein, wir Frauen müssen heutzutage nicht unsere Männer um Erlaubnis bitten, arbeiten zu dürfen, vielmehr bittet die Arbeit um Frauen. Und so kann voller Stolz festgehalten werden das ca. 72% der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland erwerbstätig sind, denn wir Frauen machen Arbeit. Eindrucksvoll mit einer Amtszeit von 13 Jahren beweist gerade unsere Kanzlerin, dass Frauen aus der Politik wohl kaum wegzudenken sein dürfen. Eine Frau die mit ihren Erfolgen und ihrer Kritik Vorbild für so viele war und ist und dem folgenden eine große Bedeutung zukommen ließ:

„Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“

Dass nun zum jetzigen Zeitpunkt so einiges selbstverständlich erscheinen kann, gibt mir die größte Hoffnung, dass unser Ziel auch eines Tages, für alle folgenden Generationen ganz selbstverständlich sein wird.

Sind also diese bewegenden Veränderungen Anlass zur Stagnation unseres Handelns? Diese Frage kann, ja muss ich mit einem klaren „Nein“ beantworten. Lassen Sie mich zum positiven Aspekt der Bildung zurückkehren, welcher erfolgreich in unserer Gesellschaft etabliert wurde. Was wir noch immer nicht vermögen ist endlich den nächsten, eigentlich so naheliegenden Schritt zu machen. Zur Verdeutlichung möchte ich eine kleine Geschichte anbringen: Zwei Menschen, aus gleichen Verhältnissen durchlaufen eine ähnliche Kindheit, eine fast nahezu identische Schullaufbahn, studieren beide mit einem guten Abschluss und stehen nach einigen mühevollen Jahren vor dem Beginn ihrer Karriere. Person eins, arbeitet genauso lange und effizient wie Person zwei und trotzdem erhält Person eins mehr Gehalt, für die gleiche Leistung in einer gleichen Position, in der gleichen Branche, mit gleichen Vorraussetzungen in Sachen Bildung. Ein unfairer Sachverhalt ? Ja, aber gleichzeitig eine Realität der viele Frauen tagtäglich gegenüberstehen, das ist Fakt. Als wäre das alles nicht genug wird Frauen, von überall her eingetrichtert, sie müssten alles können. Der Mythos „Kind und Karriere“, ist keine Chance für die wir unendlich dankbar sein müssen, viel mehr sollten wir uns klar machen, welchem Druck wir ausgesetzt werden. Gleichheit? Wohl kaum! Steht es doch nie zur Debatte dass man, Kind und Karriere unter einen Hut zubringen habe.

„Frauen können nicht einparken!“, „Frauen denken anders!“, „Frauen haben keine Orientierung!“, „Frauen sind zu emotional“, „Frauen gehören in den Haushalt!“. Im ersten Moment könnte man darüber lachen, wie klischeehaft und hartnäckig sich diese Sätze und Bilder halten. Die Betonung liegt hier auf „könnte“. Mir drängt sich doch sehr schnell die Frage auf, was oder ob, die Verbreiter solcher Unwahrheiten, denken? Die traurige Wahrheit ist aber, dass diese Rollenbilder sehr wohl noch existieren und sich so in die Köpfe der Gesellschaft eingebrannt haben, dass diese ohne jegliche fundierte Forschung munter weiterpauschalisiert werden.

Wie können wir alle also einen Beitrag leisten zur Verbesserung der Frauenrolle in unserer Politik? Wie ich bereits einmal sagte und an diesem Punkt ist immer anzusetzen; „Jede Generation hat das Recht und die Pflicht, etwas Neues zu schaffen.“ Wir dürfen, müssen allerdings auch den Mut haben immer weiter zu gehen, zielstrebig und mit Leidenschaft zu wirken. Das betrifft vor allem die jungen Menschen, denn wer wenn nicht sie bringen frischen Wind? Politik machen, Entscheidungen treffen, gestalten all das muss nicht schwer sein und darf Spass machen. Werte die junge Menschen unbedingt als einen Bestandteil der Bildung erleben müssen. Gleichheit fängt ganz unten an und kann sich nur so ihren Weg in die Selbstverständlichkeit bahnen. So ist es unsere Aufgabe, Gleichheit als Grundlage für und in der Bildung zu schaffen, zu zeigen dass nicht nach Geschlechtern kategorisiert wird, sondern nach Leidenschaft und Können. Projekte wie der sogenannte „Girls Day“ sollten mehr propagiert und gefördert werden. Einen Blick in die Geschichte der Frauenbewegungen, auch der generellen Frauenrechte unter verschiedene epochalen und geographischen Aspekten, wäre hier ein wertvoller Bestandteil um das grundlegende Problem greifbar zu machen. Nur wer ein Problem kennt, dessen Wurzel erkennbar macht, wird imstande sein es zu lösen. Wir suchen eine Lösung für ein Problem, nicht wie uns viele glauben machen wollen ein Problem für unser Lösung. Auch die Betrachtung der heutigen Problematiken mit denen Frauen zu kämpfen haben, müssen offen in schulischen und universitären Debatten behandelt werden. Wer sind wir, dass wir Zwangsprostitution, Genitalverstümmlungen, Frauenhandel und Misshandlungen unter den Teppich kehren wollen? Politik machen, für seine Meinung einstehen all das ist nicht immer einfach, nicht immer angenehm, doch genau das hat uns weitergebracht. Gerade heute stehen uns über die unendlichen Weiten des Internets, den sozialen Medien und der mit der Globalisierung einhergehenden Vernetzung von Frauen weltweit, Möglichkeiten offen, von den wir früher nur träumen konnten. Wir sind nicht allein!

Aufmerksamkeit erlangen, informieren, diskutieren, lauten unsere Ansätze. Egal inwieweit wir jemals Quoten festlegen, ich verweise hier auch auf die Parité-Gesetze, Erfolg kommt nur durch Passion, durch die pure Freude an dem was unser Herz wirklich möchte, das kann kein Gesetz der Welt bieten.

Unsere politische Mündigkeitserklärung die wir nun seit 100 Jahren inne haben, war nur ein Schritt, nur der Anfang von etwas ganz Großem, daran darf man keine Zweifel haben. Wer wenn nicht wir haben die Macht und den Wille eine Veränderung zu bewirken, die seit Jahrhunderten überfällig ist? Wer wenn nicht wir können mit Stolz zurück und nach vorne blicken unseren Weg mit Leidenschaft und Enthusiasmus bestreiten? Wer wenn nicht wir, können aus Ungleichheit, Gleichheit, aus Unrecht, Recht machen.

Wir sind der Prozess der Gleichheit.

Vielen Dank!